Unseren Jubiläums-Text gibt’s auch als pdf-Datei zum runterladen – er kann gerne verbreitet und z.B. auch auf Blogs veröffentlicht werden.
Lasst uns in Solidarität verbunden bleiben, während wir darauf warten wieder in echt mit euch feiern/lachen/streiten zu können! 🙂
Hier könnt ihr sehen, welche Glückwunsch-Botschaften uns erreicht haben.
Am 04. Mai 2020 jährt sich die Ackerbesetzung im nordhessischen Neu-Eichenberg zum ersten Mal! Vor genau einem Jahr besetzten Aktivist_innen den Acker, um sich dem Bau eines riesigen Logistikgebietes in den Weg zu stellen.
Lange schien es, als sei die Privatisierung und Versiegelung des 80 Hektar großen Ackerlandes nicht mehr zu verhindern. Der Investor Dietz AG hatte bereits einen Vorvertrag mit der Bürgermeisterin geschlossen und Gemeindegremien befassten sich eher mit der Farbe der neuen Logistikhallen als mit der Zukunft der Gemeinde.
Unsere Erfahrung zeigt: Widerstand lohnt sich!
Trotz der vielfältigen und kreativen Aktivitäten der „Bürgerinitiative für ein lebenswertes Neu-Eichenberg“ hielt die Gemeindevertretung an ihrem Vorhaben fest. Daraufhin entschlossen sich einige Menschen aus dem studentischen Umfeld der Ökoagrar-Universität in Witzenhausen den lokalen Widerstand zu unterstützen und durch die Besetzung auf eine neue Stufe zu heben. So zogen sie im morgendlichen Nieselregen mit Zirkuszelt und Feldküche los, um ein „Ackerfest“ zu veranstalten – und dann einfach zu bleiben.
Nach dem ersten Wochenende bestand die Hoffnung, trotz akuter Räumungsgefahr, zumindest eine Woche zu überstehen. Doch dann kam die nächste Woche, und noch eine, und noch eine und mittlerweile besteht die Besetzung schon ein volles Jahr lang. Ein Jahr Ackerbesetzung!
Von Anfang an wurde viel Energie in den Aufbau von Infrastruktur und sozialen Strukturen gesteckt. Zelte wurden auf- und abgebaut, Geschirr gespült, Bauwägen hoch- und umhergezogen, es wurde pleniert, Konflikte geführt oder verschleppt, Komposttoiletten, Tripods und Gewächshäuser errichtet und jede Menge leckeres Essen gekocht. Besonders beeindruckend ist der ca. 10 Meter hohe hölzerne Turm, von dem sich die gesamten 80 Hektar überblicken lassen. So wandelte sich die Besetzung mit dem Lauf der Jahreszeiten und den vor Ort lebenden Menschen. In all der Zeit floss viel Herzblut, um die Besetzung am Laufen zu halten.
Der Acker ist ein sozialer Ort des Experimentierens und der gelebten Utopien, an dem wir ein selbstorganisiertes, hierarchiefreies Zusammenleben anstreben. Bereits im ersten Sommer pflanzten wir Gemüse und organisierten ein vielfältiges Kulturprogramm mit Vorträgen, Workshops, Filmvorführungen und Konzerten.
Und die Besetzung als Investitionsrisiko zeigt ihre Wirkung: Der zu Beginn erwähnte Investor ist Anfang des Jahres abgesprungen, da der Standort für ihn aufgrund des Protestes „enorm an Attraktivität eingebüßt“ habe. Auch lokalpolitisch feiern wir erste Erfolge: Anfang 2020 beschloss die Gemeindevertretung einen Planungsstopp für mindestens sechs Monate und gibt dadurch Raum, um sich mit Alternativen zum Logistikgebiet auseinanderzusetzen. Diese ersten Teilerfolge waren nur dank des starken lokalen Widerstands und überregionaler Vernetzung möglich.
Der Kampf auf dem Acker findet nicht isoliert statt!
Die Besetzung wird maßgeblich durch die Unterstützung von Anwohner_innen mitgetragen und versteht sich als Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung. Über Nordhessen hinaus solidarisieren wir uns mit anderen emmanzipatorischen Initiativen, wie den Besetzungen im Dannenröder Wald oder Hambacher Forst. Außerdem fühlen wir uns verbunden mit der weltweiten kleinbäuerlichen Bewegung „La Via Campesina“, die insbesondere im globalen Süden gegen koloniale Ausbeutung und für Ernährungssouveränität kämpft.
Wir sind davon überzeugt, dass wir zur Verwirklichung von Klimagerechtigkeit und einem guten Leben für alle die herrschenden, kapitalistischen Verhältnisse überwinden müssen.
Der Kampf um Ernährungssouveränität findet auch hier in Neu-Eichenberg statt. Ein Schritt in diese Richtung ist, dass der fruchtbare Boden als Gemeingut bestehen bleibt und zur lokalen Lebensmittelversorgung genutzt wird.
Mit der Besetzung machen wir auch auf die bedrohliche Versiegelung von Ackerböden aufmerksam: Jeden Tag werden in Deutschland 54 Hektar verbaut¹ – dadurch hat sich die versiegelte Fläche allein in den letzten 60 Jahren verdoppelt²! Dabei haben Böden viele wichtige Funktionen. So kann beispielsweise durch Humusaufbau im Boden der Atmosphäre Kohlenstoffdioxid entzogen und dadurch die sich verschärfende Klimakrise abgemildert werden. Zudem dient der Boden als Puffer bei Starkregenereignissen, als Wasserspeicher für Trockenzeiten und als Lebensraum für viele Organismen. Die besondere Bodenqualität unseres Ackers zeigt sich auch darin , dass es in den Dürresommern der letzten Jahre auf der Fläche nur verhältnismäßig geringe Ertragseinbußen gab. Solch fruchtbare Böden bergen gesellschaftlich ein großes Potenzial und es ist höchste Zeit, dass der Bodenschutz mehr politische Beachtung findet.
Doch wie geht es mit unserem Acker in Neu-Eichenberg weiter?
Aktuell sind neben dem Logistikgebiet, das noch immer nicht endgültig vom Tisch ist, zwei weitere Konzepte im Gespräch:
Ein Unternehmen, das Software für Photovoltaik-Anlagen verkauft, hat die Idee aufgebracht, einen Großteil der Fläche mit einem Solarpark zu bebauen. Auch dieser Vorschlag sieht auf 15 Hektar ein Gewerbegebiet vor – Bodenversiegelung inklusive. Nicht nur, dass der fruchtbare Acker hierbei nicht mehr landwirtschalftlich genutzt würde – obendrein würden die Landesflächen privatisiert und damit jeglicher demokratischer Kontrolle entzogen. Grüner Kapitalismus ist keine Alternative!
Dem gegenüber steht das Konzept der Initiative „Land schafft Zukunft„, in der sich Studierende der Agrarwissenschaften aus Witzenhausen mit Praktiker*innen aus Landwirtschaft und Gartenbau zusammengeschlossen haben, um eine agrarökologische Alternative für die 80 Hektar zu entwerfen.
Unter Beteiligung der Anwohner*innen Neu-Eichenbergs möchte die Initiative in der kommenden Zeit die konkrete Umsetzung einer regenerativen Landwirtschaft mit weiteren Kooperationspartner*innen gestalten. „Land schafft Zukunft“ verfolgt das Ziel eines integrierten Konzepts mit kommunaler Energieversorgung, gemeinsachftlichem Wohnen in den Gebäuden der angrenzenden Domäne und lokaler Lebensmittelproduktion im Zentrum.
Ihre Vision ist es, einen „Praxis-, Demonstrations- und Forschungsstandort aufzubauen, um die ländlichen Entwicklungen und Systeme der regenerativen Landwirtschaft (…) voranzubringen und zukunftsfähig zu gestalten“.
Auch wir fühlen uns den Prinzipien der Agrarökologie verbunden. Auf der Besetzung hat sich dieses Jahr eine Arbeitsgruppe zusammengefunden, die nun schonmal ungehorsames Gemüse anbaut. Damit tragen wir einen Teil zu unserer eigenen Versorgung bei und wollen auch an unsere Nachbar*innen aus Neu-Eichenberg Gemüse verschenken. Außerdem haben sich ein paar Menschen aus der Region bereits selbst kleine Parzellen auf unseren rekollektivierten Acker abgesteckt, die sie nun eigenständig bewirtschaften.
Alle Menschen aus Nah und Fern sind herzlich eingeladen vorbeizukommen und mitzugärtnern. Bereits bei der ersten Bodenbearbeitung half uns ein benachbarter Landwirt – so entsteht neuer Austausch und der Widerstand wächst.
_ _ _
Fußnoten/Quellen:
1
https://www.bmuv.de/themen/nachhaltigkeit-digitalisierung/nachhaltigkeit/strategie-und-umsetzung/flaechenverbrauch-worum-geht-es, zuletzt aufgerufen am 20.09.2022
2
https://www.umweltbundesamt.de/themen/boden-landwirtschaft/flaechensparen-boeden-landschaften-erhalten#flachenverbrauch-in-deutschland-und-strategien-zum-flachensparen, zuletzt aufgerufen am 20.09.2022